Die Toten von L'Estaque Kriminalroman von Jost Baum
Marseille: An Bord einer verlassenen Yacht liegt eine Leiche – begraben unter einem Haufen Ziegelsteine. Was die Gendarmerie als Unfall abtut, lässt Commissaire Arnoult keine Ruhe. Der Tote ist der Künstler Edouard Rousseau. Als in dessen Werkstatt ein grausam gefolterter Flüchtling auftaucht, blickt Arnoult in einen Abgrund: Die Spur führt von den Schmuggelrouten Nordafrikas über die blutige Raubkunst Palmyras bis in die diskreten Bankhäuser Monacos.
Um die Hintermänner zu entlarven, muss Arnoult seine Identität ablegen. In der glitzernden Welt der Milliardäre von Monte-Carlo begibt er sich auf tödliches Terrain. Hier, wo Gier keine Grenzen kennt und Kunstwerke aus Gips und Lügen bestehen, wird er vom Jäger zum Gejagten ...
Ein rasanter Kriminalroman über die dunklen Geschäfte der Elite – vom rauen Charme Marseilles bis zum sündteuren Pflaster des Fürstentums.
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Dieses Buch erscheint am 05.01.2026.
Marseille, 6. Juli 2016
»Ich muss gleich los!«, sagte Francoise wie zu sich selbst und goss Kaffee aus der Espressokanne, die schmurgelnde Geräusche von sich gab und kleine Dampfwölkchen ausstieß, in eine Porzellanschale, die groß genug war, um ein Croissant hineinzutunken.
»Ich weiß!«, sagte Arnoult, der hinter sie getreten war, seine Arme um ihre schlanken Hüften geschlungen hatte und ihr einen Kuss in den Nacken gab.
»Lass das!«, flüsterte sie. »Ich komme sonst zu spät.« »Damit du mich nicht vergisst, im fernen Paris«, seufzte Arnoult, bevor er sanft über ihr Haar strich und sich enttäuscht abwandte.
»Das Taxi wartet schon. Wenn alles gut läuft, bin ich am Freitag schon wieder da«, sagte Francoise und küsste ihn flüchtig auf die Stirn, auf der eine feuerrote Narbe prangte, die wie ein Blitz aussah und von einem Unfall stammte, den er selbst verschuldet hatte, bei dem seine erste Frau ums Leben gekommen war. Francoise goss etwas Milch in die Schale mit dem Kaffee, nahm sie in beide Hände und trank einen kleinen Schluck. »Es ist das letzte Mal in diesem Sommer, dann ist Drehpause, okay?« »Lass mich wenigstens deinen Koffer tragen!«, rief er ihr nach.
»Kommt nicht infrage, denk an deinen Rücken!«, hörte er noch, bevor die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Arnoult kam sich plötzlich verloren vor. Um sich abzulenken, öffnete er die Glastür, die auf den Balkon hinausführte. Der Garbin, der vor zwei Tagen über das Meer und Marseille getobt war, hatte den Himmel blank gefegt, der jetzt in einem betörenden, glasklaren Stahlblau über der Stadt prangte.
Von Ferne hörte er das Tuten der Fähre, die auf dem Weg nach Korsika war, das immerwährende Rauschen des Verkehrs, das auch nachts nicht verstummte, und das wütende Hupen eines Autos. Der Geruch von Benzin und die salzige, nach Fisch riechende Luft des Meeres, die durch den Spalt der geöffneten Balkontür kroch, vermischte sich mit dem Duft des Kaffees, den Francoise für sie beide gekocht hatte und der in der Küche auf ihn wartete. Das plötzliche Alleinsein in der Wohnung erdrückte ihn; vielleicht würde ihm ein Spaziergang guttun.
Arnoult beschloss, auf dem Weg ins Kommissariat einen weiteren Café au Lait zu trinken. Er würde möglichst lange arbeiten und erst am späten Abend, wenn nicht erst in der Nacht, zurückkehren, um dann todmüde ins Bett zu fallen. Das Summen seines Handys erlöste ihn aus seinen trüben Gedanken.
»Gucciardini, wo stecken Sie, Arnoult? Wir ertrinken in Arbeit!«, meldete sich der Staatsanwalt.
»Haben Sie kein Privatleben, Gucciardini?«, erwiderte Commissaire Arnoult und unterdrückte ein Lachen, das in ihm aufstieg, als er sich den Staatsanwalt vorstellte, der in seinem maßgeschneiderten Anzug darauf wartete, sein Büro zu verlassen, um sich mit seinem Rendezvous zu treffen – meist jungen Aspirantinnen auf einen Job in seiner Privatkanzlei, die er heimlich mit seinem Cousin betrieb. »Was gibt es so Dringendes?« »In L’Estaque hat ein Fischer ein Boot auf dem offenen Meer entdeckt, auf dem eine Leiche lag; begraben unter einem Haufen Ziegelsteine. Die Gendarmerie Marine hat es in den Hafen geschleppt. Edouard Rousseau, ein Kunsthandwerker, der in einer stillgelegten Fabrik Keramiken herstellte. Ihr Metier, Arnoult: mittellose Künstler, die unter Ziegelsteinen ihr Leben aushauchen!« Gucciardini kicherte, bevor er grußlos auflegte.
Nach einer fast einstündigen Autofahrt in seinem Citroën, der keine Klimaanlage besaß und dessen Seitenscheibe der Fahrertür auf halber Höhe hakte, sodass sich das Auto in der Sommerhitze in einen Backofen verwandelt hatte, erreichte Arnoult den Vorort von Marseille. Am Fuße des Nerthe-Massivs war der kleine Hafen von L’Estaque immer noch eines der malerischsten Viertel der Stadt. Seine Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte war eng mit der traditionellen Fliesenindustrie verbunden.
Die Gendarmerie lag am Rande des Hafenbeckens, nur einen Steinwurf vom Büro des Hafenmeisters entfernt. Sie war im Erdgeschoss eines seelenlosen Neubaus mit Alufenstern und weißer Fassade untergebracht.
Arnoult parkte auf einem Stellplatz, der für die Gendarmerie reserviert war, streifte das Leinenjackett über und betrat den Neubau. Maréchal des Logis Heroult kam ihm eilfertig entgegen, als Arnoult sein Büro betrat.
»Ah, der Commissaire aus Marseille, wir haben Sie schon erwartet!«, begrüßte er ihn. »Kommen Sie, kommen Sie, wir wollen keine Zeit verlieren. Die Leiche befindet sich immer noch auf dem Boot. Sie müssen sie zur Obduktion freigeben, der Pathologe wartet bereits!« Heroult, klein und drahtig, fuchtelte nervös mit den Händen und deutete in Richtung des Hafenbeckens, als er Arnoult die Tür aufhielt. »Ein Fischer hier aus dem Ort hat die Giselle gefunden. Sie hatte einen Treibanker gesetzt und irgendwie den Sturm überstanden. Er hat die Küstenwache verständigt, weil sich niemand auf seine Rufe hin meldete. Die Gendarmerie Marine hat dann Edouard Rousseau, einen Künstler hier aus L’Estaque, unter einem Steinhaufen begraben auf dem Vordeck des Schiffes gefunden. Die Küstenwache musste die Giselle leer pumpen. Erst dann konnte man das Schiff hier in den Hafen schleppen. Die Backsteine haben die Leiche konserviert. Rousseau sieht zwar ramponiert aus, aber die Verwesung hat noch nicht eingesetzt!«, sagte Heroult mit einem Grinsen.
»Hat die Gendarmerie Marine eine Idee, wie der Leichnam unter die Ziegelsteine geraten ist?«, fragte Arnoult spöttisch.
»Capitaine Cadoret geht von einem Unfall aus. Vielleicht ein Frachter, der während des Sturms von der Route abgekommen ist, dabei die Giselle gerammt und seine Fracht verloren hat. Die Untersuchungen laufen noch.« »Na, da bin ich aber gespannt ...«, murmelte Arnoult und musterte das Totenschiff. Die Giselle war an einem Steg vertäut, das Segel gerefft, der Steinhaufen abgeräumt und auf dem Steg gestapelt, die Leiche auf dem Pier aufgebahrt und mit einem Leinentuch vor der sengenden Sonne geschützt. Von einer eventuellen Karambolage mit einem Frachter war nichts zu erkennen. Arnoult trat hinzu und lüftete das Laken.
Er kannte Rousseau, einen Künstlerkollegen, einen Bär von einem Mann, kräftig, muskulös, mit einem grau melierten Bart, einer prächtigen Mähne und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
»Haben Sie seine Frau benachrichtigt?«, fragte Arnoult und bedeckte die Leiche wieder mit dem Tuch.
»Nein, noch nicht, ich wollte damit warten, bis Sie den Toten gesehen und identifiziert haben«, erwiderte Heroult, der inständig darauf hoffte, dass Commissaire Arnoult diese unangenehme Pflicht übernehmen würde. »Die beiden sind seit kurzem geschieden. Anette arbeitet inzwischen wieder als Kellnerin in einem Bistro im La Rade, nicht weit von hier; man kann zu Fuß dahingehen.« »Und wo ist sein Atelier, wo hat er gearbeitet?« »Den Berg hinauf, es ist nicht zu verfehlen, es gibt nur diesen einen schmalen Pfad. Rousseau hat wohl auch noch eine Werkstatt, die ist in einer stillgelegten Fabrik; wo genau, weiß ich nicht ...« »Ach ja, gibt es Hinweise darauf, warum Rousseau ausgerechnet während des Sturms auf das Meer hinausgefahren ist?«, fragte Arnoult und blinzelte in der Mittagssonne, die inzwischen den Zenit erreicht hatte. Das Thermometer zeigte 30 Grad.
»Giroux, der Hafenmeister, hat ihn gewarnt. Er sagt, Rousseau wollte nur zum Hafen Vallon des Auffes fahren, ein paar Seemeilen die Küste entlang. Er hätte eine Einladung ins Chez Fonfon. Ich habe heute Morgen mit dem Besitzer telefoniert. Er sagt, er hätte nicht mit Rousseau gerechnet und er wäre auch dort nicht aufgetaucht.« »Danke, Maréchal Heroult, ich melde mich bei Ihnen, wenn ich noch Fragen habe«, erwidert Arnoult. »Ach ja, können Sie veranlassen, dass die Ziegelsteine untersucht werden? Auf ihre Herkunft, die Art ihrer Verwendung, vielleicht findet sich sogar DNA auf der Oberfläche. Alors, wo geht’s lang zum Bistro?« »Etwa dreihundert Meter, hinter dem Hafen. Es gibt nur das eine Bistro!«, erklärte Heroult. »Die Ziegelsteine wurden jedenfalls nicht in L’Estaque produziert. Unsere Fabriken hier stehen seit Jahren still. Ich werde mich darum kümmern, woher sie stammen!«, rief der Maréchal dem Commissaire hinterher, der sich bereits im Eilschritt entfernt hatte.